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Aufwachsen im Marien-Viertel

Foto: Das Stadtarchiv als Kooperationspartner des Projekts stellt das Fotos des Marienhospitals nach Kriegszerstörung und im Wiederaufbau im April 1952 zur Verfügung.Foto: Stadtbildstelle, Repro J. Fruck, Quelle: Stadtarchiv Witten, Fotosammlung 1.33.1

Der erste Text stammt von Frau H.G. und heißt „Aufwachsen im Bunker“, welcher die Kriegszeit im Marienviertel beschreibt:

„Ich bin 1937 in Dortmund geboren, dort wurden wir 1943/44 ausgebombt und haben alles verloren. Eine Tante, die im Marienhospital in Witten arbeitete, fand uns im Bunker und nahm uns mit. Meine Mutter konnte dann in der Küche arbeiten und wir durften auch dort wohnen. Und zwar da, wo heute die Notfall-Einfahrt ist, war im Keller ein Luftschutzbunker mit mehreren Räumen. Auch wir hatten ein kleines Zimmer für uns. Fenster waren da natürlich nicht, nur Luftschächte, die ein wenig Licht hineinließen. Viele Kakerlaken gab es, die krabbelten unter der Decke entlang. Nachts fielen einige runter. Ich hab mir deshalb immer das Betttuch über den Kopf gezogen – nachher wollte ich nicht mehr ohne Tuch über dem Kopf schlafen.
Ich hatte keine Langeweile, durfte in der Küche und Backstube des Krankenhauses helfen. Auch eine Freundin war oft dabei.
Im Keller des Krankenhauses war damals die Schälstube – da saßen dort den lieben langen Tag alte Frauen und schälten Kartoffeln. Über Monate und Jahre nur für Kost und Logis. Ein fürchterliches Leben – aber sie und wir hatten etwas zu essen.

Schweinestall statt Mülleimer

Ich bin den ganzen Tag durch das Krankenhausgelände gesprungen – da wo heute die Müllstation des Krankenhauses ist, war früher der Schweinestall. Verantwortlich dafür war Florentin, ein lieber Mann, der dort auch wohnte in einem winzigen Häuschen mit einem kleinen selbstgebauten Altar. Da hab ich mich gerne aufgehalten. Oft habe ich auch ‚Wipper‘, den Heizer des Krankenhauses, in seinem Heizungskeller besucht, da hat sich keiner dran gestört, das war auch toll.

Bombardierung erlebt

1944 wurde die Marienkirche und das Hospital bombardiert – der Kirchturm kam herunter. Wenn Bombenangriffe waren, versammelten sich viele im Keller und beteten voller Angst. Die vielen ‚Vater unser‘ und ‚Ave Maria‘, die wir damals gebetet haben, waren nicht umsonst. Niemand in meinem Bekanntenkreis ist durch die Bomben zu Tode oder verletzt worden.
Als die Schulen wieder öffneten wurde ich in der Oberkronenschule eingeschult, manchmal mussten wir auch in die Wannenschule. 1947 öffnete die katholische Breddeschule, dort ging es streng zu. Mädchen und Jungs durften auf dem Schulhof nicht zusammen spielen. Zwei Ohrfeigen habe ich mir dort eingehandelt. Das 4. und 8. Schuljahr konnte ich ‚überspringen‘, sodass ich 1952 mit 15 Jahren entlassen wurde. In diesem Jahr bekamen wir endlich eine eigene Wohnung nach den Jahren im Bunker.“

Die 50-Pfennig-Story

Frau R. teilte ihre „Die 50-Pfennig-Story“, in der sie beschreibt, wie Dr. Ehring ihrem Sohn das Leben rettete:

„Als unser Sohn noch zur Grundschule ging, wurde noch Woche für Woche Milchgeld eingesammelt, das waren 50 Pfennig. Unser Filius brachte das Kunststück fertig, mit der Münze herumzuspielen und sie anschließend zu verschlucken. Der Rektor brachte daraufhin unseren Hartwig nach Hause und riet zu einem dringenden Arztbesuch.

Aus Sorge ins Marienhospital

Gesagt getan, aber der Hausarzt hatte die Ruhe weg und sagte nur: ‚Setzen Sie ihn lange genug aufs Töpfchen, das kommt schon wieder ans Tageslicht.‘ Es passierte aber nichts. Irgendwann war die Sorge so groß, dass wir ins Marienhospital gingen und die Chefärztin der Kinderklinik ließ unseren Jungen durchleuchten (nicht röntgen) und stellte fest, dass die Münze zwischen Dünn – und Dickdarm feststeckte. Frau Dr. Ehring verordnete abführende Speisen wie Sauerkraut und kontrollierte alle zwei Tage den Erfolg beziehungsweise in diesem Fall den Misserfolg: Das Geldstück steckte fest. Gemeinsam mit dem damaligen Chefarzt des Krankenhauses überlegte Frau Dr. Ehring, wie eine Operation am sinnvollsten sei – allerdings fiel ihr bei dieser Besprechung eine letzte Idee ein, ‚die letzte Chance‘, wie sie meinem Mann und mir sagte: ‚Reißen Sie ein Tempotaschentuch in lange Streifen, streichen Sie diese mit Apfelmus ein und geben Ihrem Sohn die unzerkaut zu essen.‘
Auch wenn unser Sohn selten so gejammert hat, es wirkte tatsächlich: Die Tempotücher wickelten sich um die Münze und beförderten sie zu Tage – dank einer einfallsreichen Chefärztin!“

Die Caritas sucht weitere Geschichten und Fotos aus dem Marien-Viertel: an Caritas Witten, Fokus, Hauptstraße 81, Ruf 2783626 oder per E-Mail an rolf-kappel@caritas-witten.de.

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