Stemmen gemeinsam das neue Projekt „Soziale Verschreibung“ im Wittener Marienviertel: (v.l.) Caritas-Vorstand Andreas Waning, Heike Bergemann von der Uni Witten/Herdecke, Caritas-Sozialarbeiter Rolf Kappel und Dr. Kurt-Martin Schmelzer.
Quelle: WAZ Witten vom 30.03.2024, Autorin: Annette Kreikenbohm.
Im Wittener Marienviertel gibt es ein neues Projekt. Es bietet einsamen und sozial benachteiligten Menschen Hilfe. Eine Betroffene erzählt.
Medikamente gegen Erkältungen oder Bauchschmerzen gibt es auf Rezept. Doch was tun, wenn es die Einsamkeit ist, die einen Menschen krank macht? Oder die vielen Behördengänge, die manchem über den Kopf zu wachsen drohen? Im Wittener Marienviertel verschreiben Ärzte jetzt in Kooperation mit der Caritas soziale Kontakte und Hilfe im Alltag. Einige Männer und Frauen profitieren bereits davon.
Eine von ihnen ist eine 74-Jährige, die an der Marienstraße wohnt. Sie hat starke Probleme mit den Bronchien. Ihre Wohnung, die keiner der lokalen Genossenschaften gehört, ist voller Schimmel. Im Keller ist der Abfluss verstopft. „Es stinkt ganz fürchterlich“, erzählt die Frau. Sie ist ohnehin nervenkrank, hatte neulich einen Zusammenbruch, müsste unbedingt umziehen. Zudem ist vor elf Jahren ihr Ehemann gestorben. „Das ist alles zu viel für mich.“ Ihre Familie – Tochter, Schwiegersohn, Enkelin – hilft, wo sie kann. „Aber die sind alle berufstätig.“
Manchmal reicht eine Begleitung beim Spaziergang
Ihr Hausarzt Dr. Kurt Martin Schmelzer hat die problematische Situation jenseits einer medizinischen Diagnose erkannt und ihr eine „Soziale Verschreibung“ in die Hand gedrückt. „Mit dem Zettel hat er mich zur Caritas geschickt und die haben schon viel für mich getan“, freut sich die Seniorin. So hat Sozialarbeiter Rolf Kappel mit dem Mieterverein gesprochen oder notwendige E-Mails geschrieben. „Das kann ich alles nicht“, sagt die Wittenerin. Sie hofft, auf diese Weise auch bald eine neue Wohnung zu finden.
Nicht alle Menschen, die – freiwillig – mit dem ungewöhnlichen „Rezept“ zu Kappel und seinem Team kommen, benötigen derart intensive Unterstützung. Manchen reicht schon eine Begleitung beim Spaziergang. Wie der Frau, die Probleme mit dem Blutdruck hat, sich eigentlich mehr bewegen soll, aber Angst hat, dabei umzukippen. Manchmal reicht es, beim Antrag auf Bürger- oder Pflegegeld zu helfen oder in eine Selbsthilfegruppe zu vermitteln.
Denn Einsamkeit sei immer auch ein Thema, so Kappel. Deshalb stehen auf dem Zettel, den der Arzt aushändigt, schon Angebote der Caritas als Anregung, etwa Yoga für Frauen, eine Theater- oder Kochgruppe. „Keiner muss im Marienviertel alleine bleiben“, sagt der Sozialarbeiter. Kappel hatte die Idee zu diesem Experiment, wie er es nennt. Er kennt Ähnliches aus England.
Das Marienviertel gehört zum Sozialraum 10 und 12 in Witten. „Das Auge des Orkans“, nennt es Kappel. Dort leben besonders viele Kinder und Familien mit Migrationshintergrund, außerdem viele alte Menschen sowie Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose. Neulich habe er einen älteren Portugiesen getroffen, der sich tagelang nur von Toastbrot ernährt hat.
Uni Witten/Herdecke auch beteiligt
Der Sozialarbeiter hat mit seiner Idee offene Türen bei Caritas-Chef Andreas Waning eingerannt. Dann hat sich Rolf Kappel kurzerhand ins Wartezimmer der nahegelegenen siebenköpfigen Praxis Schmelzer gesetzt, weil er den Mediziner telefonisch nicht erreichen konnte.
Mit Gesundheitswissenschaftlerin Heike Bergemann von der Uni Witten/Herdecke, die vieles im Quartier erforscht und das neue Projekt wissenschaftlich begleitet, ist der Sozialarbeiter häufig im Marienviertel unterwegs. Inzwischen weiß er: Über den Hausarzt erreicht man die Menschen am besten. Der Mediziner war ebenfalls begeistert.
Die Ärztliche Qualitätsgemeinschaft Witten (ÄQW) habe schon vor Jahren die Idee gehabt, dass sich mehrere Praxen gemeinsam einen Sozialarbeiter leisten sollten. Denn Gesundheit sei nicht nur das Fehlen von Krankheit, sagt Dr. Kurt Martin Schmelzer.
Zum körperlichen Wohlbefinden zähle auch der psychische, spirituelle und soziale Bereich. „Aber das war damals Wunschdenken. Es fehlte das Geld“, sagt der Hausarzt. Dabei kriegen sie in der Praxis so viel mehr mit als nur die Krankheiten der Patienten. „Und bis jetzt konnten wir da nicht viel tun.“
Das in der Region einzigartige Projekt kann mit finanzieller Förderung durch den kirchlichen Armutsfonds in Paderborn nun zwei Jahre lang laufen – und soll bei Erfolg auf andere Stadtviertel und Praxen ausgeweitet werden. Die 74-Jährige von der Marienstraße jedenfalls ist froh, dass es das soziale Rezept gibt. „Für mich ist das eine große Hilfe.“ Eine kostenlose noch dazu.